Das Stacheldrahtseminar im Dépôt 501

Mit der Einnahme von Paris durch die alliierten Truppen am 25. August 1944 wurde Abbé Stock, der sich zu der Zeit im Lazarett La Pitié aufhielt, Gefangener der Amerikaner. Als er dann am 23. September in das riesige Gefangenenlager von Cherbourg geflogen wurde, kam er bald in Kontakt mit Abbé Rodhain und Abbé Le Meur von der Aumônerie Générale in Paris. Man besprach die seelsorgerische Betreuung der deutschen Kriegsgefangenen, und es wurden auch Pläne für die eventuelle Errichtung eines Seminars für kriegsgefangene Theologiestudenten entworfen.

Am 13. März 1945 schrieb Abbé Le Meur an Abbé Stock: „Der französische General, der die deutschen Gefangenen in Frankreich befehligt, hat entschieden, ein Seminar für alle deutschen gefangenen Theologen zu eröffnen. Ich bin dabei, die Vorbereitungen für diese Einrichtung zu treffen und alle Theologen in Orléans zusammenzubringen. An ihrer Spitze, so haben wir -Abbé Rodhain und ich- seit langem schon gedacht, müßten Sie stehen. Ich komme deshalb heute, Sie offiziell zu fragen, ob Sie gewillt sind, unter materiell härteren Bedingungen als die, unter denen Sie leben, die geistliche Bildung jener Theologen zu übernehmen. Ich erlaube mir, Sie inständig zu bitten, diese Aufgabe und vielleicht dieses Opfer anzunehmen.“

Die französische Kirche unternahm hier Schritte, die zu einer Erneuerung Europas führen sollten. Und es kann nicht genügend betont werden, daß es Männer der Kirche waren, die vor den Politikern die Weichen für die deutsch-französische Aussöhnung und die Einigung Europas gestellt haben.

Abbé Stock hatte lange gezögert, aber dann doch zugesagt, obwohl er seiner Meinung nach nicht die nötigen Voraussetzungen für eine solche Aufgabe mitbrachte. In seiner Antwort vom 27. März schrieb Abbé Le Meur: „Ich bin überzeugt, daß das Werk, welches wir unternehmen, einen großen rückhaltenden Einfluß auf die gegenseitige Verständigung unserer beiden Länder und das Ausstrahlen unserer geliebten Kirche haben wird.“

So wurde das Seminar zuerst in Orléans im Kriegsgefangenenlager Dépôt 51 und später nach Chartres in das Gefangenenlager Dépôt 501 verlegt. Der Bischof von Chartres, Monsignore Harscouet, hatte das Seminar unter seine Obhut genommen. Kommandant des Lagers war Colonel Gourut.

Hier in Chartres wurden aus allen französischen Lagern die kriegsgefangenen Theologiestudenten zusammengezogen und konnten ihre Studien fortsetzen oder auch beginnen. Für die Jüngsten gab es einen Abiturkurs. Die Universität Freiburg im Breisgau übernahm die Patenschaft über dieses Seminar. Über zwei Jahre bestand dieses Seminar, das in seiner Art in der Geschichte der Kirche einzigartig war. Es war das bis dahin größte Seminar, und es war ein „Seminar hinter Stacheldraht“ (Séminaire des barbelés), zwei Fakten, die es bis dahin noch nicht gegeben hatte. Insgesamt 949 Dozenten, Priester, Brüder und Seminaristen waren im Verlauf der zwei Jahre dort. Fast 600 wurden später Priester. Davon unabhängig war es Ziel, jungen Menschen, die berufen waren, praktische und moralische Verantwortung im Nachkriegsdeutschland zu übernehmen, eine spirituelle Ausbildung zu geben, um der Indoktrinierung entgegenzuwirken, der sie in der Nazizeit ausgesetzt gewesen waren. Am 5. Juni 1947 wurde es aufgelöst. Die letzten 369 Seminaristen verließen das Gefangenenlager.

Der in Paris residierende Nuntius Roncalli, der spätere Papst Johannes XXIII, besuchte viermal das Seminar. Bei einem seiner Besuche sagte er: „Das Seminar von Chartres gereicht sowohl Frankreich wie Deutschland zur Ehre. Es ist sehr wohl geeignet, zum Zeichen der Verständigung und Versöhnung zu werden.“ Und der Kanonikus der Kathedrale von Chartres, Pierre André, Sekretär des Bischofs von Chartres, sagte später wiederholt: „Der Mont Valérien und das Seminar von Chartres sind die beiden Fundamente der deutsch-französischen Aussöhnung und des vereinten Europas.“

Abbé Stock wandte in seiner Abschiedsrede kurz vor der Auflösung des Seminars sich an die Seminaristen: „Eine von der Vorsehung gewollte Zahl von Heiligen wird genügen, unsere Epoche zu retten. Es ist die Vorsehung, die uns diesen Anruf zur Heiligkeit entgegenschleudert durch die Stimme der Geschichte, und wir müssen ihn hören, um der Welt die Botschaft von Freiheit und Frieden, Heil und Liebe zu bringen.“ Abbé Pihan, Prediger in Notre Dame, nannte am 20. Todestag Stocks diese Botschaft eine prophetische Botschaft, und Abbé Stock selbst hatte sich diesem Anruf zur Heiligkeit gestellt.

siehe auch: Europäische Begegnungsstätte Franz Stock im Lagerkomplex Stacheldrahtseminar

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