Abbé Stock hat immer sein Heimatland genau so sehr geliebt wie er Frankreich liebte. Als deutscher Seelsorger für die französischen Gefängnisse in Fresnes und Cherche-Midi wollte er der Bruder der französischen Geiseln und Widerstandskämpfer werden, die dort gefangen und hingerichtet wurden. Viele sahen ihn als ihren Bruder an, egal ob sie katholisch oder gläubig oder gar nichts waren.
Darüber staunten wir damals und auch heute noch erfüllt es uns mit Danksagung.
Wie war es möglich, daß diese Beziehung entstand? Wir wissen, daß die Katholiken jedem Priester Vertrauen entgegenbringen. Und in unserem Land wird ihm dieses Vertrauen auch von jenen entgegengebracht, die unseren Glauben nicht teilen. Und doch war es auch nötig, daß der Mensch, der sich dieser priesterlichen Aufgabe stellte, sich des Vertrauens auch als würdig erwies.
Aus dem Mund von Franz Stock wurde bezeugt, daß viele der Hingerichteten nicht mit Haß reagierten auf die Gewalt, die ihnen begegnete und sie zerstörte. Drohungen, Folter und Verurteilung versuchten, sie ihrer Menschlichkeit zu berauben. Franz Stock, der Deutsche, der katholische Priester begleitete sie zum letzten Augenblick und zeigte ihnen, obwohl er machtlos und entsetzt war, das unzerstörbare Antlitz ihrer eigenen Menschlichkeit, denn er legte Zeugnis ab für die Liebe.
Die Kraft für diese Menschlichkeit hatte Abbé Franz Stock, der Gefängnisseelsorger im besetzten Paris, nicht aus sich.
Im August 1941 erklärte er: "Oft meine ich, ich kann nicht mehr. Ich mache hier so schreckliche Erfahrungen, daß ich nicht schlafen kann." Die Gnade seiner Priesterweihe machte ihn Christus ähnlich, Christus des gekreuzigten, der für das Heil der Welt gestorben und auferstanden ist und schenkte ihm dieses Antlitz der Menschlichkeit.
Indem er das Los der Opfer teilen wollte, wurde durch seinen Dienst das lebendige Zeichen des Gekreuzigten vor ihren Augen sichtbar. Franz Stock zeigt ihnen eine Ikone der Menschlichkeit, die von ihrer eigenen Verneinung erlöst ist.
Er eröffnet ihnen den noch dunkeln Weg der "seligen Hoffnung" (Tite 2,13) und er macht ihnen Mut, gegen die Zerstörung ihrer Würde Widerstand zu leisten.
Kurz nach Kriegsende ist er in Chartres, berufen, unter den deutschen Kriegsgefangenen, Seminaristen (Priesteramtskandidaten) auszuwählen und auszubilden. Mit Klarheit hat Franz Stock erkannt, was der Priester für die künftige Zivilisation weiterhin alles darstellen kann und soll.
Nach zwei Jahren normalisiert sich die Lage und das "Stacheldrahtseminar" kann geschlossen werden, in dem fast 1000 Leute studiert und gebetet hatten als Vorbereitung auf das Priesteramt. Am 26. April 1947 hält er die Abschiedsrede.
Wir entdecken hier eine klare Vision des entschiedenen Einsatzes für unsere Zukunft. Er ist sich einig mit seinem großen französischen Freund Joseph Folliet, der am Ende seines Lebens Priester wurde: von ihm borgt er die Ausdrucksweise:
"In der Srukturkriese, die dem Menschen im Westen begegnet, [...] wird der junge Priester von den Fragen unserer Zeit als erster und ungeschützt ergriffen […] Er wendet sich an Streitfragen, an Kreuzungen, er entdeckt Gefahren, heilt Wunden, sein Ziel ist es jenen, die suchen und verzweifeln Heil und Trost zu bringen. […] Eine neue Welt wurde geboren. […] Die moderne Kultur, vom technischen Fortschritt angestoßen, hat in 150 Jahren das Sozialsystem umgestürzt und entwickelt sich mit atemberaubender Geschwindigkeit weiter.
Die Menschheit, an der Wegkreuzung angekommen, kann sich in der Richtung irren und den menschlichen Termitenhügel oder den atomaren Selbstmord wählen, anstatt sich für den echten Fortschritt zu entscheiden, der darin besteht, die Eroberungen der Wissenschaft und der Technik durch den Geist zu beherrschen um sie in den Dienst des Menschen zu stellen. In diesem neuen Mittelalte kann die Kirche jene Rolle spiele, die sie an der Schwelle des großen Mittelalters hatte: Als Botschafterin des Übernatürlichen kann sie das Natürliche retten, als Beauftragte Gottes kann sie den Menschen befreien. […] Unsere Zeit ist aktivistisch, aufgewühlt, erotisch. Sie verwechselt Geistliches und Zeitliches. […] Eine bestimmte Anzahl Heiliger reicht aus, um eine Epoche zu retten. […] Heilige, die durch das Schauspiel ihres Lebens ein Beispiel geben und damit den Weg der menschlichen Ordnung lehren. […] Heilige, die die Liebe zu ihrem Herkunftsland Versöhnen mit der Liebe zu allen Menschen, über die Grenzen von Nationen, Staaten, Rassen und Klassen hinaus. Hierin besteht der Ruf zur Heiligkeit, wie ihn die Vorsehung uns vorlegt durch die Entwicklung der Geschichte."
Wie weit wurde dieser Ruf gehört?
Etwa 50 Jahre später bleibt er jedenfalls völlig aktuell.
Auch heute mußte von neuem die klare Formulierung ertönen, die Franz Stock gegeben hat. Denn unser treffen aus Deutschen und Franzosen würde nichts bringen, wenn es nur eine Ehrerweisung der Jüngeren Generation ihrer Großeltern gegenüber währe die ihrerseits schaffen und zwei Völker versöhnen wollten.
Franz Stock und Joseph Follet weisen heute, nach mehr als 50 Jahren, auf einen anderen Kampf hin. Nicht mehr Deutsche gegen Franzosen und Franzosen gegen Deutsche: der Krieg ist zu Ende, Europa wurde geboren. Nicht mehr Nazi-Diktatur gegen die Demokratien: die Ideologen haben ausgedient, auch wenn sie hier und dort noch einzelne verführen, die nicht wissen oder die vergessen haben, welche Grausamkeiten sie hervorbringen. Heute geht es um den Kampf gegen die Versuchungen, daß der Mensch den Menschen vernichtet.
Das Evangelium des heutigen Tages zeigt uns die letzte Wirklichkeit. Jesus Christus wurde in die Wüste geführt, er hat alle Versuchungen ausgekostet und hat sie besiegt:
die uralte Sehnsucht, selbst die Quelle des Lebens zu sein;
Streben nach Macht, das erbarmungslos andere Menschen der eigenen Macht unterwirft;
Die Vergötzung des Menschen, der sich für Gott hält und mit einem Schritt zum Selbstmord seine Freiheit verliertDarin bestand die wahre Natur des geistlichen Kampfes, der den Zweiten Weltkrieg und seine Schrecken beherrschte. Es gab Männer und Frauen, die den Mut und den geistlichen Durchblick besaßen, die das erkannten, die sich solidarisch erklärten, auch wenn sie durch den Krieg in feindliche Lager gerieten. Schon damals arbeiteten Deutsche und Franzosen am künftigen Werk der Versöhnung, indem sie bereit waren – auf beiden Seiten – lieber der Kraft des Geistes zu gehorchen, als der des Bösen, und indem sie ihr Leben für die Wahrheit hingaben.
Ich bitte euch, für sie zu danken und für sie zu beten.
Für Franz Stock und all jene, die er bis zum Tod begleitet hat.
Aber wir wollen wachsam sein:
Der Friede und die Gemeinschaft unter Geschwistern, wie wir sie hier vorfinden, dürfen uns nicht in geistliche Betäubung versetzen, aus der wir spät, vielleicht zu spät erwachen!
"Laßt eure Lampen brennen" sagt der Herr (Lk 12,35)
"Wachet und betet," sagt er auch, "damit ihr nicht in Versuchung geratet." (Mt 26,41)
Gemeinsam sind wir, Deutsche und Franzosen, verantwortlich für unsere gemeinsame Zukunft, vor den Menschen und vor Gott.