Vortrag Friedensgottesdienst Libori 25. Juli 2014 (Paderborn)
Abbé Franz Stock. Ein Wegbereiter der Aussöhnung Vom Frieden am Ende der Tage spricht der Prophet Jesaja [2,2-5], vom messianischen Reich. Aber das Reich Gottes ist bereits mit dem Kommen des Messias angebrochen. Und den Menschen den Frieden, der von Gott kommt, schon jetzt erfahrbar zu machen, ist der Auftrag derer, die sich zu Jesus Christus bekennen. |
Hier an dieser Stelle in unserem Dom wurde am 12. März 1932 ein Mann zum Priester geweiht, der als ein Wegbereiter der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich gilt, der dazu beigetragen hat, dass aus der alten Erbfeindschaft eine Erzfreundschaft geworden ist: Franz Stock. Sein Wirken fällt vor allem in die Zeit des II. Weltkrieges und die ersten Jahre danach: Seit 1941 oblag ihm neben seiner Tätigkeit als Rektor der deutschen katholischen Gemeinde in dem von Deutschen besetzten Paris auch die seelsorgliche Begleitung der Franzosen, die die Deutschen inhaftiert oder gar zum Tod durch Erschießen bestimmt hatten. Von 1945 bis 1947 war er Regens des Priesterseminars hinter Stacheldraht, erst in Orleans, dann in Chartres, das die Franzosen eingerichtet hatten, damit deutsche Theologiestudenten während ihrer Kriegsgefangenschaft ihren Weg zum Priestertum weiter gehen konnten. 1904 in Neheim im Sauerland geboren, sind Kindheit und Jugend von Franz Stock aber durch die Erfahrungen des I. Weltkrieges und der folgenden Jahre geprägt.
1. Prägende Motive in Kindheit und Jugend
Rufen wir uns zunächst diese in Erinnerung, um seine Person und sein Wirken besser verstehen zu können. Franz Stock wächst in einem Elternhaus auf, in dem der gelebte katholische Glaube völlig selbstverständlich ist. Dies bedeutet, in einer vitalen Beziehung zu und in einem tiefen Vertrauen auf Gott zu leben, im täglichen persönlichen Gebet sich in ihm zu verankern, ihn als den sicheren Punkt im eigenen Leben zu erfahren.
Zur damaligen Zeit kommt den katholischen Jugendverbänden große Bedeutung zu. Franz Stock gehört dem sog. Quickborn an. In dieser Bewegung verwirklichen sich mehrere Anliegen. Zunächst betrifft dies eine bewusste Mitfeier der Liturgie, auch durch Übersetzungen der Texte in die Volkssprache, um aus diesem Reichtum geistlich zu leben. Zudem spielt die katholische Friedensbewegung eine wichtige Rolle. Diese bekam durch die Enzyklika Papst Benedikt XV. vom Pfingstfest 1920 mit dem Titel Pacem, Dei munus pulcherrimum (Friede, der hervorragendste Auftrag Gottes) wichtige Anregungen. Der Papst fordert gerade einmal ein gutes Jahr nach dem Ende des I. Weltkrieges nachdrücklich auf, Gegner nicht zu unterdrücken, sich mit seinen Feinden zu versöhnen, weil alle Menschen ausnahmslos geliebte Geschöpfe Gottes sind und daher wie in einer Familie Brüder und Schwestern. Seine Aussagen weisen den Weg für einen wirklichen Frieden und eine tiefe Aussöhnung, die mehr sind als ein bloßer Nichtsangriffspakt, als ein Waffenstillstand. Erhalten ist ein von Stock durchgearbeitetes Exemplar der Enzyklika, was von seiner intensiven Auseinandersetzung mit dieser Thematik zeugt. Aus diesem Impuls resultierten auch internationale katholische Jugendtreffen. Stock nimmt im August 1926 an einem solchen mit dem Leitwort „Frieden durch die Jugend" in der Nähe von Paris teil und kommt dadurch erstmals nach Frankreich, wo man sich – so wurde er gewarnt – als Deutscher seines Lebens nicht sicher sein könne.
Denn das Verhältnis von Deutschen und Franzosen ist in jener Zeit zumindest von einer diffusen Angst, oft sogar von Hass geprägt. Das dürfte Stock schon als Jugendlicher erfahren haben: Denken wir an Napoleon, auch an seinen Feldzug durch Westfalen nach Russland – in der Jugend Stocks gerade einmal 100 Jahre her. Vater Stock war im I. Weltkrieg vier Jahre Soldat; die barbarischen Kämpfe an der Westfront mit Frankreich sind sicher immer wieder Thema gewesen. Denken wir aber auch an die Besetzung des Ruhrgebietes – keine 50 km von Neheim entfernt – durch belgische und französische Truppen in den Jahren 1923 bis 1925, mit der Frankreich die deutschen Reparationszahlungen unmittelbar einfordert; damals ist Stock 20 Jahre alt. In Frankreich war es nicht anders: Mit dem Krieg von 1870/71 oder dem I. Weltkrieg zeigte sich der östliche Nachbar als Aggressor, der einen Eroberungskrieg betreibt. Und so erlebt Stock während seiner Studienzeit 1927/28 in Paris selbst im Priesterseminar auch tiefes Misstrauen gegen die Deutschen. – Allerdings: Dass das nicht sein muss, dass selbst mit Franzosen ein gutes Verhältnis möglich ist, dürfte Stock gerade auch hier in Paderborn erfahren haben: Der im Jahre 836 bei der Überführung der Reliquien des hl. Liborius mit Le Mans geschlossene „Liebesbund ewiger Bruderschaft", eine Gebetsverbrüderung, hatte sich trotz des sonst zunehmenden Nationalismus durch die Jahrhunderte bewährt: In der Not hatte man einander beigestanden, und 1897 hatte das Paderborner Domkapitel anläßlich des 1.600 Todesjahres des Heiligen den Bischof und das Domkapitel von Le Mans einladen wollen, was jedoch am Widerspruch der deutschen Staatsgewalt scheiterte.
2. Die Liebe zum Nächsten als Wegbereitung zur Völkerverständigung
Blickt man auf das Leben von Franz Stock, so fällt seine völlig vorbehaltlose und uneingeschränkte Offenheit für die Menschen auf, die ihm anvertraut sind. Das zieht sich durch sein ganzes priesterliches Leben hindurch: So denke ich in Dortmund, seiner ersten Stelle als Priester, an die polnischen Arbeiter, die dort in Zechen und Stahlwerken arbeiten, aber kaum ein Wort deutsch sprechen. Als er 1934 erstmals als Rektor der deutschen Gemeinde nach Paris kommt, richtet er bald neben seinem Pfarrhaus ein Wohnheim für deutsche Au-pair-Mädchen ein. Vor allem ab 1938 kümmert er sich um Menschen, die aus politischen Gründen Deutschland verlassen müssen. Während des Krieges sorgt er sich um Tausende – Zehntausende(e) – inhaftierte Franzosen und gut 2.000 Menschen vor ihrer Hinrichtung. In seinem Pfarrhaus treffen sich deutsche Soldaten aller Dienstgrade zu religiösen und geselligen Treffen. Und später setzt er sich ganz für seine Seminaristen ein. – Welche Personen es auch sind: Er fragt nicht nach deren Nationalität oder nach dem, was sie vollbracht oder verbrochen haben, beispielsweise in den Gefängnissen in Paris, ob sie der Résistance angehören, die den Deutschen gefährlich werden könnten, oder ob sie Geiseln sind. Dabei lässt er sich auch nicht davon beeinflussen, dass die Gefangenen aufgrund ihrer Nationalität zum „Erzfeind" gehören oder nach nationalsozialistischer Ideologie und Terminologie gar „minderwertig" sind wie Juden und Kommunisten. Vielmehr: Der Mensch ist ihm wichtig und wertvoll – jeder einzelne Mensch ausnahmslos, ohne Vorbehalte, wer er auch von seiner Nationalität, Religion oder Weltanschauung her sei. Denn jeder Mensch ist ein Geschöpf und Abbild Gottes mit einer nicht aufgebbaren Würde! Stock will stets als Priester für ihn da sein, oder zumindest einfach nur als Mensch, als Wegbegleiter und Helfer in schrecklicher Angst.
So überbringt er kurze Botschaften und Grüße der Inhaftierten an ihre Angehörigen und umgekehrt, beschafft kleine Dinge des täglichen Bedarfs: In aller Regel nur kleine Dienste – aber in dieser Phase unendlich wertvoll. Seine großen Taschen, die er sich in seine Soutane hat nähen lassen, sind Ausdruck seines großen Herzens. Als Primizspruch hatte er einst gewählt: „Weihet Eure Seele durch Gehorsam gegen die Wahrheit zu aufrichtiger Bruderliebe und habet einander von Herzen lieb" (1 Petr 1,22). Dies lebt er, und zwar nicht nur in bezug auf praktizierende Katholiken. Er betet mit Juden auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung Psalmen. Er lässt dem Einzelnen trotz allen Bemühens die Freiheit, sich für Gott zu entscheiden; er respektiert auch, wenn jemand von ihm als Priester nichts wissen will, obwohl ihn dies sicher schmerzt, nicht weil er persönlich, sondern weil letztlich die Sehnsucht des himmlischen Vaters abgelehnt wird, einen Menschen in seiner existentiellen Not in seine Arme schließen zu können. Als Priester abgelehnt zu werden, ist für Stock aber kein Grund, nicht zu helfen, denn er sieht seine Sendung auch darin, den Menschen – ob Freund, ob Feind – einfach im Sinne tätiger Nächstenliebe in irdischen Dingen beizustehen: Menschlichkeit in der Hölle der Gefangenschaft.
In der Pfarrkirche Hl. Geist in Bielefeld zeigt eine Station des von dem Düsseldorfer Künstler Gerresheim geschaffenen Kreuzweges Simon von Cyrene mit den Gesichtszügen von Franz Stock. In dem notleidenden Nächsten, der mir als nächstes vor die Füße fällt, wer er von seiner Herkunft auch sei, Christus zu erkennen, ihm zu helfen, sein Kreuz zu tragen, darin lebt Stock seine Berufung als Priester, als Christ. Er predigt nicht, die Franzosen sollen ihre Feinde – die Deutschen – lieben, also quasi sich ihnen unterordnen. Er lebt einfach vor, dass ein Deutscher seine „Feinde" – die Franzosen – liebt. So erleben die Franzosen: Nicht jeder Deutsche ist ein Nazi, der ihnen feindlich gegenübersteht; gelebte christliche Nächsten-, ja Feindesliebe überwindet vielmehr nationalistisches Denken. „Amor vincit omnia" (Die Liebe besiegt alles) – steht später auf Stocks Totenbild.
Auf diese Weise gelingt es Franz Stock, bei vielen Franzosen tiefen Respekt zu erwerben, ja sogar Vertrauen keimen zu lassen. Sie können durch ihn unmittelbar erfahren: Versöhnung über Grenzen hinweg ist nicht Theorie oder gar Utopie, sie kann vielmehr gelebte Wirklichkeit sein und zu gegenseitiger Wertschätzung führen. So schreibt ein deutscher Militärarzt eines Lazaretts mit nicht transportfähigen Soldaten über das Wirken Stocks in Paris im August 1944 noch vor Einzug der Alliierten an dessen Familie in Neheim, ihr Verwandter habe „mit unendlicher Liebe sich unserer schwerverwundeten Kameraden angenommen", und fügt verklausuliert an, er habe „sich auch bei den französischen Terroristen [gemeint ist die Résistance] und dem sonstigen französischen Personal großer Wertschätzung erfreut". Konkreter Anlass war, dass eine Gruppe der Résistance aus Rache deutsche Soldaten erschießen wollte, diese aber auf Stocks Intervention davon absieht und das Lazarett unter ihren besonderen Schutz stellt. Liebe durchbricht den Teufelskreis des Hasses. Und als es um die Leitung eines Priesterseminars hinter Stacheldraht geht, sind mit Stock als Regens alle politischen Gruppen einverstanden: Man kennt ihn, denn führende Personen Frankreichs hatten in den deutschen Gefängnissen gesessen, und Stock hatte ihnen beigestanden.
Hätte man Franz Stock gefragt, ob er Deutscher oder Franzose sei, so hätte er aus seiner Herkunft keinen Hehl gemacht. Er bleibt in seiner westfälischen Heimat verwurzelt, die er Zeit seines Lebens liebt. Dennoch liegt ihm am Herzen, Deutsche mit Frankreich vertraut zu machen, sie an seiner Liebe zu Frankreich und dem Reichtum dieses Landes und seiner Bewohner teilhaben zu lassen – also ein Deutscher, der sich nicht abschottet, sondern der Wissen über den anderen vermitteln möchte, um ihn aus dessen eigener Situation verstehen zu können – vielleicht ein erster Ansatz eines Kulturtransfers.
So scheint es auch nur auf den ersten Blick bedeutungslos, daß Stock während des Krieges mit deutschen Soldaten am Sonntagnachmittag Ausflüge in das Umfeld von Paris unternimmt: Er möchte ihnen Frankreich als ein Land hervorragender Kultur vor Augen führen, was die deutsche Ideologie zumindest ignoriert. Mit dieser Intention veröffentlichte er wohl 1943 auch ein Buch über die Bretagne – alles andere als nur ein schöngeistiger Reiseführer! Dahinter steht die Botschaft: Habt Respekt vor Land und Leuten; sie haben dieselben christlichen Wurzeln wie wir!
Auch seinen Seminaristen in Chartres vermittelt Stock immer wieder die Schönheit Frankreichs. Zudem trägt er ihnen auf, dankbar für diese Zeit zu sein, in der sie endlich wieder ihrer Berufung folgen können. Und wenn sie wieder zu Hause sein werden, sollen sie davon berichten! Welches Vertrauen zwischen den Franzosen und einem Deutschen, ihrem Regens, möglich ist, das erkennen die Seminaristen daran, wie sie in Chartres behandelt werden: Als Kriegsgefangene, die sonst hinter Stacheldraht eingepfercht leben, dürfen sie auf Ehrenwort in die Stadt gehen und die weltberühmte Kathedrale besuchen!
3. Ein Leben in der Ausrichtung auf Gott
Dieses außergewöhnliche Leben im Dienst am Nächsten und gar am Feind lässt fragen: Aus welchen Quellen lebte Franz Stock geistlich? Sein Leben ist zutiefst von der Frohen Botschaft des Evangeliums geprägt. Dies bedeutet zunächst: Er ist davon überzeugt, dass Gott letztlich einen viel größeren und viel besseren Plan mit den Menschen, mit jedem Menschen hat, als was ihm in diesem Elend begegnet, das Menschen einander angerichtet haben. Nur so kann er die Angst und Not in den Gefängnissen von Paris selber tragen und diese hilflose Menschen dort wieder tiefer oder gar erstmals zu Gott hinführen. Seinen Seminaristen erschließt er den großen Schatz der Liturgie, um ihnen den Glauben wieder als eine Heimat nahe zu bringen. Allen, die ihm anvertraut sind, vermittelt Stock: Der christliche Glaube wurzelt letztlich darin, dass in Jesus Christus die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes greifbare Wirklichkeit geworden ist, dass ihm jeder einzelne Mensch als sein geliebtes Geschöpf am Herzen liegt, und dass von dessen unendlicher Liebe den Menschen nichts – nicht einmal Gefangenschaft und Tod – trennen kann.
in weiteres: Wenn jeder Mensch ein Abbild Gottes ist, in genau derselben Weise wie ich selber es bin, kann ich dem anderen als meinem Bruder, als meiner Schwester nur auf Augenhöhe begegnen, d.h. mit Wertschätzung und Hochachtung. Alle menschlichen Ab- und Ausgrenzungen zwischen Freund und Feind, stehen dazu in krassem Widerspruch. Auf Augenhöhe: das heißt auch sich vor dem hinknien, der am Boden liegt.
Es ist bezeichnend, dass Franz Stock in besonderer Weise den hl. Erzengel Michael verehrt, den Bezwinger des Bösen. Auf dem von ihm selber gemalten Altarbild in der Kapelle des Priesterseminars in Chartres steht dieser Erzengel neben der zentralen Kreuzigungsgruppe. Stock sieht in ihm nicht den Schutzpatron Deutschlands gegen den „Erzfeind" Frankreich. Er kennt vielmehr dessen Bedeutung in der Geschichte auch dieses Landes; erinnert sei an den Mont St. Michel oder an die Biographie der Jungfrau von Orléans. Stock sieht in der gemeinsamen kulturellen und christlichen Wurzel Deutschlands und Frankreichs die einigende Klammer. Dabei soll der Erzengel Michael jedem nationalen Egoismus wehren, der je für sich in Anspruch nimmt, wie Gott sein zu wollen, aber der Feindschaft unter den Völkern und Kriege hervorruft. Der gemeinsame Blick auf den einen Gott und Herrn aller Menschen aller Länder öffnet eine Dimension, die alle von Menschen geschaffenen Grenzen und Gräben relativiert, ja übersteigt und abschafft. Aber weil der Mensch aufgrund seines Egoismus Angst um seine eigene Existenz hat und meint, sich absichern und abschotten zu müssen, bedarf es des erbeteten himmlischen Beistandes für das Zusammenleben und Zusammenwachsen der Völker.
Es wird allgemein bezeugt, dass Franz Stock durch sein schlichtes Wirken als – französisch – Abbé (Vater) oder – westfälisch – als Pastor (Hirte) Gottes Güte und Menschenfreundlichkeit hat erfahrbar werden lassen, die alle menschliche Verirrungen und Feindschaften überwindet. So hat er mit dazu beigetragen, Vertrauen zwischen Franzosen und Deutschen zu bilden als Basis für die spätere Aussöhnung. Ein bedeutendes Zeugnis eines Lebens aus dem Glauben! Doch einem jeden Getauften ist aufgetragen, einen jeden Menschen als Abbild Gottes ganz und gar Wert zu schätzen und all das zu tun und nur das zu tun, was dem Frieden dient. Denn Friede ist eine kostbare Gabe Gottes, die es bis zum Ende der Tage vor menschlicher Eitelkeit und Enge zu schützen gilt.