Artikel zum 60. Todestag von Abbé Franz Stock 2008,
veröffentlicht im L'OSSERVATORE ROMANO (d), 22.02.2008:
Berufen zum Dienst an der Versöhnung
Vom Kirchenvater Johannes Chrysostomus, der als Bischof von Konstantinopel im 4. Jahrhundert lebte, ist das Wort überliefert: „Nichts kann einen so zum Nachfolger Christi machen wie die Sorge um den Nächsten!“
Dabei stehen ihm gewiss nicht nur die großen biblischen Gestalten der Nachfolge Christi aus dem Evangelium vor Augen – angefangen von den Fischern am See Gennesareth bis hin zum Völkerapostel Paulus -, sondern wohl auch so manche Zeitgenossen, die sich in Gottes Namen beherzt den Menschen zuwandten und sich ihrer Anliegen und Nöte annahmen.
In der Tat haben sich Menschen aller Zeiten in die Nachfolge des Herrn begeben und auf den oft verschlungenen Wegen ihres Lebens ein Zeugnis der Barmherzigkeit Gottes gegeben. Weil sie sich von dem gerufen wussten, der gekommen ist, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten (vgl. Mk 2,17), haben sie unter großem Einsatz ihrer Talente und nicht selten bis zur Hingabe ihres Lebens den apostolischen Dienst wahrgenommen.
Im Dienst des Heilsbringers Jesus Christus wusste sich auch der 1904 in Neheim/Ruhr im Bistum Paderborn geborene Priester Franz Stock unterwegs zu den Menschen. An seiner Lebensgeschichte wird auf bewegende Weise deutlich, dass die Grundsignatur der Berufung der Jünger bei einem jeden zu erkennen ist, der sich in die Nachfolge des Herrn rufen lässt.
Bei „Abbé“ Franz Stock, wie er von den Franzosen in vertrauter Form genannt wird, zeigen sich vor allem drei Aspekte der Nachfolge, die über den zeitlichen Rahmen seiner Sendung hinaus nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben.
1. Die Berufung setzt mitten im Leben eines Menschen an und ist mit seiner Herkunft verbunden.
Weil Franz Stock das „Folge mir nach“ Jesu bereits als junger Mensch hörte, machte er sich direkt nach dem Abitur auf, als Theologiestudent auf die Priesterweihe zuzugehen, die er am 12. März 1932 im Paderborner Dom empfing. Die Bodenständigkeit seiner familiären Herkunft, die Prägung durch seine Heimatgemeinde und die Verwurzelung im vom Aufbruch geprägten katholischen Jugendbünden wie „Bund Neudeutschland“ und der Quickbornbewegung ließ ihn schon in frühen Jahren den Willen Gottes für sein Leben suchen und seiner besonderen Berufung in der Kirche folgen. Dass Franz Stocks Kindheit und Jugend in die Zeit des Ersten Weltkriegs und in die von politischen und ökonomischen Wirren gekennzeichneten Jahre der Weimarer Republik fiel, lässt um so deutlicher erkennen, dass ihm seine Herkunft ein stabiles Werte- und Glaubensfundament mit auf den Weg gab. So konnte er mit großer Entschiedenheit und Konsequenz seinen Weg gehen und als Priester in unserem Bistum und vor allem in Frankreich zum Wachsen des Reiches Gottes beitragen.
2. Die Berufung befreit aus den Grenzen der eigenen Lebenswelt und öffnet Räume für ein umfassendes Miteinander im Reiche Gottes.
Schon während seines Theologiestudiums wurde Franz Stock auf eine Spur gelockt, die für sein ganzes weiteres Leben geradezu providentiell wurde: Ostern 1928 entschied er sich für ein dreisemestriges Studium am „Institut Catholique“, der Katholischen Hochschule in Paris. Dass Franz Stock 1934 zum Pfarrer der ‚Katholischen Gemeinde Deutscher Sprache’ in Paris ernannt wurde und von da an durch seinen seelsorglichen Dienst, durch kulturelle Angebote und Möglichkeiten der Begegnungen zwischen Deutschen, Franzosen und Bürgern anderer Nationen, zwischen Katholiken und Nichtkatholiken ein weites Feld der Kommunikation zwischen den Kulturkreisen eröffnete, zeigt bereits die Richtung an, in die sein priesterliches Wirken weisen sollte. Bei Kriegsausbruch 1939 musste er Frankreich schweren Herzens verlassen.
3. Die Berufung gewinnt ihre Glaubwürdigkeit und Fruchtbarkeit im Dienst an den Notleidenden und Hilfsbedürftigen.
Im August 1940 kehrte Franz Stock bereits nach Frankreich zurück: als Seelsorger der Deutschen in Paris und Standortpfarrer für die Seelsorge in den Wehrmachtsgefängnissen. Zahlreiche Zeugnisse Überlebender, Bücher und Filme dokumentieren den aufopferungsvollen Dienst Franz Stocks an den ungerecht Verurteilten und deren Familien. Seine Menschlichkeit und sein Zugehen auf andere – ohne Rücksicht auf die eigenen Bedürfnisse und Kräfte und oft mit hoher Risikobereitschaft – wurden allseits geschätzt, so dass die Franzosen ihn gerne als „Seelsorger der Hölle“ oder „Erzengel in der Hölle“ bezeichneten. Von außen wird man wohl nie ermessen können, was Abbé Stock in den Jahren 1940 bis 1944 auf sich genommen hat, um das Kreuz derer tragen zu helfen, die buchstäblich dem Reich des Todes entgegengingen.
Bei Kriegsende blieb Franz Stock in Paris und ging freiwillig in Kriegsgefangenschaft, um überall dort einzuspringen, wo Hilfe jeder Art notwendig war, beispielweise in den Lazaretten, wo schwerverwundete und nicht transportierfähige deutsche Kriegsgefangene unter schwierigsten Bedingungen versorgt werden mussten.
Seinen segensreichen Dienst in Frankreich konnte Franz Stock schließlich im Auftrag der französischen Autoritäten als Regens des sogenannten „Priesterseminars hinter Stacheldraht“ in einem abgetrennten Teil des Kriegsgefangenenlagers ‚Dépôt 501’ bei Chartres fortsetzen. Unter heute unvorstellbaren Bedingungen führte Franz Stock im Verlauf seiner zweijährigen Tätigkeit von 1945 bis 1947 in Chartres nahezu 1.000 Dozenten, Priester, Brüder und Seminaristen aus Deutschland und Österreich zusammen und inspirierte sie, moralische, aber auch praktische Verantwortung für den inneren Wiederaufbau Europas zu übernehmen. Ehemalige Gefängnisinsassen, die Franz Stock in den Jahren 1940 – 1944 seelsorglich betreut hatte, fanden sich jetzt in ihrer Funktion als hohe Repräsentanten des Staates im Seminar ein und förderten seine Entwicklung. Der damalige Nuntius in Frankreich, Erzbischof Giuseppe Roncalli, der spätere Papst Johannes XXIII., besuchte das Lager viermal und nahm sich dabei immer viel Zeit für das Gespräch mit den Verantwortlichen und den Seminaristen. Nachdem Bischof Harscouët aus Chartres das Seminar unter seine Obhut genommen hatte und durch die Besuche französischer und deutscher Bischöfe im Seminar darin unterstützt wurde, die großen Vorbehalte der französischen Öffentlichkeit gegen die als Sonderbehandlung von Kriegsgefangenen gebranntmarkte Seminararbeit zu mindern, trat allmählich der Gedanke der Versöhnung in das Bewusstsein der Menschen, die auf verschiedensten Ebenen mit dem Seminar in Kontakt gekommen waren. Hier wird deutlich: Auch in seinem Dienst als Regens dieses bisher in der Kirchengeschichte wegen seiner Größe und der besonderen Umstände einmaligen Priesterseminars folgte Franz Stock seiner Berufung, „der Welt“, wie er selbst sagte, „die Botschaft von Freiheit und Frieden, Heil und Liebe zu bringen“.
Am 5. Juni 1947 wurde das ‚Stacheldrahtseminar’ in Chartres aufgelöst. Während die letzten Seminaristen in ihre Heimat zurückkehrten, blieb Franz Stock in Frankreich. Allerdings: Das Zentrum der katholischen Seelsorge in Paris, das ‚Maison Catholique de la Langue Allemande’ war nach Kriegsende vom französischen Staat konfisziert und einer anderweitigen Benutzung zugeführt worden. Eine Wiederaufnahme der früheren Tätigkeit Stocks war illusorisch. Da sich sein Gesundheitszustand stetig verschlechterte, musste Franz Stock sich im Februar 1948 ins Pariser Hospital Cochin begeben, wo er plötzlich und ohne Beistand am 24. Februar 1948 verstarb. Sein Tod durfte seinerzeit nicht veröffentlicht werden, da er Kriegsgefangener war. Dennoch gelang es seinen französischen Freunden, wenigstens einen kleinen Kreis Trauernder zum Begräbnisgottesdienst am 28. Februar 1948 in der Kirche Saint-Jacques du Haut-Pas zusammenzuführen, dem Nuntius Roncalli vorstand. Bei der Einsegnung des Leichnams sprach er die inzwischen berühmten Worte aus: „Abbé Franz Stock – das ist kein Name – das ist ein Programm!“ Und dieses Programm Franz Stocks bestand darin, der Not seiner Zeit folgend, unermüdlich und unerschrocken, tapfer und geduldig seiner Berufung in der Nachfolge des gekreuzigten Herrn zu folgen. Was ihn bis heute und gewiß auch in Zukunft wie einen leuchtenden Stern der Menschenfreundlichkeit Gottes unter uns aufscheinen lässt, ist sein uneigennütziger Dienst der Versöhnung. Weil er davon überzeugt war, dass „alles von Gott kommt, der uns durch Christus mit sich versöhnt hat und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat“ (2 Kor 5,18), konnte er sein großes Friedenswerk vollbringen. Damit brachte er in das wohl dunkelste Kapitel der deutsch-französischen Beziehungen ein Gegengewicht ein, das unvergessen bleibt und nach dem Krieg zum Vorbild für den Neubeginn vertrauensvoller Beziehungen zwischen beiden Ländern wurde.
Das außergewöhnliche Wirken Franz Stocks in dunklen Zeiten hat Folgen bis in die Gegenwart: Denn als „Dienst der Versöhnung“ sehen auch die drei Franz-Stock-Gesellschaften in Arnsberg-Neheim, Paris und Chartres ihre Arbeit an, wenn sie sich bemühen, das Wirken Franz Stocks einer breiten Öffentlichkeit näher zu bringen. So verfolgen sie seit einigen Jahren das Projekt, die leer stehende Halle des ehemaligen „Stacheldrahtseminars“ zu einer europäischen Begegnungsstätte umzugestalten. Seit der „Grundsteinlegung“ im Jahre 2005 wurden dann auch erste Baumaßnahmen in der unter Denkmalschutz stehenden Halle durchgeführt. Dass bereits jetzt schon jährlich rund 3.000 Menschen die wenig einladende Halle aufsuchen und sich über Franz Stocks Lebenswerk informieren, bestärkt die Verantwortlichen in ihrer Zielsetzung, Franz Stocks „Programm“ der Versöhnung und des Friedens wirkungsvoll umzusetzen.
Auch 60 Jahre nach dem Tod von Abbé Franz Stock überwiegt neben der Anerkennung seines unermüdlichen Wirkens die tiefe Dankbarkeit für das Glaubenszeugnis, das er den Menschen seiner Zeit gegeben hat und das auch über den großen zeitlichen Abstand von sechs Jahrzehnten nichts von seiner Strahlkraft verloren hat.
Vielleicht hilft uns das bewegende Lebenszeugnis Franz Stocks auch dabei, bewusster wahrzunehmen, wie groß das Geheimnis der Berufung in die Nachfolge Christi ist und wie sehr wir Christen seinem Willen entsprechen, wenn wir zu Dienern und Dienerinnen der Versöhnung und des Friedens im Großen und im Kleinen werden. Möge uns Abbé Franz Stock vom Ziel seines Kreuzwegs in der österlichen Herrlichkeit her ein treuer Begleiter auf den Wegen unserer Berufung sein! Und vielleicht werden wir noch den Tag erleben, an dem wir die Fürsprache eines seligen Franz Stock für uns erbitten können!
Erzbischof Hans-Josef Becker, Paderborn